Leere Umhausung 1 (gegenüber Ossip Zadkine Großer Orpheus)
Eurydikes Rückkehr
Und die ganze Zeit verspricht sie ihm, dass sie ihn eines Tages überraschen wird und nach Deutschland zurückkommt. Und er glaubt ihr. Und dann steht sie plötzlich vor ihm. Man kann sagen, er ist von dem, was er sieht, nicht so überwältigt, wie er es erwartet hatte. Er hatte erwartet: Einfach weiter zu machen, da, wo sie aufgehört hatten. Sie hatten aufgehört, als sie sich aus seinen Armen gewunden hatte, gesagt hatte, ich muss noch die letzte Bahn kriegen, ich ruf dich an, und die Tür fiel ins Schloss, und er wusste, sie würde sich so schnell nicht melden. Sie rief an, irgendwann, aus diesem anderen Land, weit weg, in der Leitung knisterten ihre Worte, hör zu, sagte sie, ich musste das tun, ich hab das Gefühl, ich muss einmal durch die Hölle gehen, ein paar schlechte Erfahrungen, weißt du, das muss man, einmal in seinem Leben.
Er hatte keine Ahnung gehabt, wovon sie sprach, er hoffte, dass sie es nur symbolisch meinte, irgendeine Art Fiebervision, von der sie sich bald erholen würde. Er meinte eine fremde Traurigkeit in ihrer Stimme zu hören, aber das konnte auch daran gelegen haben, dass ihre Abwesenheit ihn so mühelos schmerzte.
Und jetzt steht sie vor ihm, alles passiert in einer seltsamen Geschwindigkeit, die verzweifelte Hast seiner Fragen, die er ihr am liebsten stellen würde und gleichzeitig die Angst, ihr zu nahe zu kommen, die ihn lähmt. Und dann: WAHNSINN
WIRKLICH
KRASS.
Sie ist wirklich wieder da. Und dann: Bloß jetzt nicht
SCHWATZHAFT
REDSELIG
ABSCHWEIFEND
LOSLABERN.
Natürlich kann er nichts dagegen tun, gegen seine Erinnerung an
GEFÜHLE
DÜFTE
FARBEN
ERREGUNG.
Und um gegen diese Erinnerungen anzugehen, überlegt er sich mögliche Szenenfolgen:
Er nimmt sie in den Arm, sagt, du musst nichts sagen, ich bin einfach nur glücklich, dich zu sehen, geht in die Küche und setzt Wasser für ihren Lieblingstee auf.
Andere Szene:
Er nimmt sie nicht in den Arm, sagt nichts, geht wortlos in die Küche und macht sich einen starken Kaffee, geht zum Schreibtisch, zieht unter einem Papierstapel zwei Konzertkarten hervor und zeigt sie ihr. Hast du Lust?
Noch eine Variante:
Er versucht seinem Charaktertyp, dominanter Melancholiker, eine betont sachliche Nuance zu überschreiben, er spricht von Fallgruben, denen er in Zukunft aus dem Weg gehen möchte, niemand mit klarem Verstand würde glauben, dass diese Trennung keine Spuren hinterlassen habe, überhaupt Hölle, was zum Teufel bedeute das, er halte nichts von Pathos oder dem Liebäugeln mit Leid, schon gar nichts von autoagressiver Selbstverwirklichung.
Längere Pause.
Dann spricht er ohne Unterbrechung weiter, spricht vom Narrativ, was wir unserem Leben geben, durch unsere Entscheidungen und Auslassungen und Unterlassungen, man könne Gefahren nicht suchen, wenn sie echt sein sollen, bitte keine Fälschungen, keine Kopien –
STOP.
Er hört auf, sich weitere Szenen vorzustellen. Stattdessen zeigt er ihr die Blasen an seinen Fingern, er habe in den letzten Monaten, seit ihrem Verschwinden, so viel auf der Lyra gespielt, dass die Fingerkuppen keine Zeit hatten, Hornhaut zu bilden. Seine Stimme habe gelitten, seine Stimmbänder, er habe ihr nachgesungen, so oft und so laut geschrien habe er, dass seine Stimmbänder jetzt angeschlagen seien. Und immer wieder seien die Saiten gerissen, manchmal habe er in seiner Wut die Lyra malträtiert wie – .
Jetzt fehlt ihm das Wort für etwas, das seine Wut und Trauer und Verzweiflung hätte erdulden können. Er sagt, er habe ihr die Pest an den Hals gewünscht und noch vieles mehr, unglaublich, was man alles Schlechtes erfinden kann.
Eurydike sagt nichts.
Orpheus hatte nicht erwartet, dass sie schweigt, er dachte, sie würde ihm erklären, dass jetzt alles gut werden wird.
Das ist eine Möglichkeit.
Eine andere Möglichkeit wäre, wenn sie ihm sagen würde, dass er die ganze Geschichte sein lassen soll, sie schere sich einen Dreck um ihn.
Er sieht, dass sie sich verändert hat.
Er mag das nicht.
Er versucht sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie nicht mehr existiert, dann beschließt er, sich das nicht vorzustellen, er besitzt viel zu viel Einbildungskraft. Er will sie noch einmal ansprechen, er streckt auf eine seltsame Weise die Arme nach ihr aus, Eurydike hält den Atem an.
Dann war sie nie da.
Autor: mythendermoderne (Pia Janssen) Würde eines Nachts, alle Skulpturen entfernt, wer könnte am nächsten Morgen sagen wo welche gestanden hat? Entlang des City-Sees, auf dem Creilerplatz und vor dem Rathaus Marl erzählen zehn Hörstücke vom eigenen und fremden Blick auf die Skulpturen in der Stadt. Geschichten entstehen und verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander und werden so dem Narrativ der Skulptur habhaft. Der akustische Parcour entlang der Skulpturen vermittelt zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren. Der Hörer wird Teil der Geheimnisse der Kunstwerke. Im Herbst 2015 verschwanden zehn Skulpturen im Aussenraum des Skulpturenmuseums Marl unter silbernen, hölzernen Umhausungen der Künstlerin Pia Janssen. Während der Zeit der umhüllten Skulpturen interviewte sie, gemeinsam der Schrifstellerin Bettina Erasmy zufällig vorbei gehende Passanten zu der Kunst am im Aussenraum des Museums. Dieses Tonmaterial und Fakten über die Bildhauer und ihre Zeit waren die Grundlage für die Kurzgeschichten die Bettina Erasmy für jede Skulptur schrieb. In der Regie von Pia Janssen entstanden 10 Hörstücke mit der Musik von Block Barley und 10 Sprecher*innen, die sich zu einem Hörparcour verdichten.