Wunden
Ich schätze sein Gewicht. Ich kann hier warten, ich hab Zeit, ich schätze sein Gewicht, ich schätze mal Tonnen. Viele Tonnen. Ich kann auch aufn Baum steigen, von oben drauf gucken, also, schätz mal, was der wiegt. Als ob son Gewicht irgendwas sagen würde. Schwer eben. Aber wie der sich so in die Haut drückt, also, ich nenne die Erde jetzt mal Haut, und wie der da so steht, dass man meint, der verschwindet jetzt gleich, fährt in die Haut ein, wie son Chip, wie son tonnenschwerer Chip. Tut er aber nicht. Er bleibt stehen. Als wär der Akku leer. Ist irgendwann hier aufgetaucht, ich habs nicht mitgekriegt, schätze mal, dass ich da vielleicht noch gar nicht auf der Welt war, aber da stand der schon hier, son Stück Stein, also Granit, und ich denk mir, wer hat dem denn so zugesetzt? Abends, wenn der Stein langsam in der Dämmerung versinkt und irgendwann von der Dunkelheit geschluckt wird, dann ist er nur son Schemen, schwarz und still und schwer. Aber tagsüber, dann sieht mans, seine Wunden, ich sag dazu Wunden, geh mal ran, dann siehst du die Löcher und die Kerben und riesige Spalten, als hätte jemand mit nem Laserschwert ihn spalten wollen. Weiß nicht warum. Vielleicht weil drinnen was ist, son Geheimnis, so ne Gralsbotschaft. Ich wills gar nich wissen, mir tuts nur weh, wenn ich den Stein mit seinen Wunden sehe. Hin und wieder geh ich hin und schau nach ihm. Wies ihm so geht. Ich habs nicht gern, wenn die Menschen was mit ihm machen, Sachen drauf abstellen, sogar, wenn sie sich anlehnen, werd ich sauer. Ich weiß nicht, ob er mitkriegt, dass ich ihn beschützen will, und wenn ich alle verjagt habe, lege ich meine Finger auf seine Kanten, und die sind weich, ich schwörs, obwohls Stein ist, fühlt es sich weich an. Das kommt vom Regen und der Sonne und vom beißenden Wind, das ist wie Schmiergelpapier. Und manchmal spreche ich zu ihm wie zu ner Gegensprechanlage, und dann warte ich, dass er was sagt, klar sagt er nichts, aber ich denke mich in ihn hinein, und vielleicht würde er sagen, ich steh doch nicht hier, um euch zu amüsieren. Natürlich nicht, und dann blinzle ich zweimal und der Gedanke ist weg, und dann streichle ich ihn dreimal, und ich weiß, er ist nur ein Stein. Trotzdem, ich bin mir eigentlich sicher, eines Tages werd ich wieder nach ihm schauen, und dann ist er weg, und dann, irgendwann, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, steht er wieder da, gespalten und noch mehr Löcher und noch mehr Kerben, so tief wien schwarzer Schlitz, der alles Licht schluckt.
Autor: mythendermoderne (Pia Janssen) Würde eines Nachts, alle Skulpturen entfernt, wer könnte am nächsten Morgen sagen wo welche gestanden hat? Entlang des City-Sees, auf dem Creilerplatz und vor dem Rathaus Marl erzählen zehn Hörstücke vom eigenen und fremden Blick auf die Skulpturen in der Stadt. Geschichten entstehen und verbinden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander und werden so dem Narrativ der Skulptur habhaft. Der akustische Parcour entlang der Skulpturen vermittelt zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren. Der Hörer wird Teil der Geheimnisse der Kunstwerke. Im Herbst 2015 verschwanden zehn Skulpturen im Aussenraum des Skulpturenmuseums Marl unter silbernen, hölzernen Umhausungen der Künstlerin Pia Janssen. Während der Zeit der umhüllten Skulpturen interviewte sie, gemeinsam der Schrifstellerin Bettina Erasmy zufällig vorbei gehende Passanten zu der Kunst am im Aussenraum des Museums. Dieses Tonmaterial und Fakten über die Bildhauer und ihre Zeit waren die Grundlage für die Kurzgeschichten die Bettina Erasmy für jede Skulptur schrieb. In der Regie von Pia Janssen entstanden 10 Hörstücke mit der Musik von Block Barley und 10 Sprecher*innen, die sich zu einem Hörparcour verdichten.